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Eines muss man ihnen lassen: Ein mutiger Schritt ist es ja schon, den Crytek mit seinem zweiten Crysis aus dem so satten und vertrauten Grün des Dschungels tut. Natürlich konnten die Wahl-Frankfurter nicht ewig wie der erste Mensch durch das Unterholz beinahe unberührter Eilande huschen und dabei Mutanten und Aliens in die hässlichen Gesichter schießen. Trotzdem zeugt es schon von einem wohldimensionierten Selbstbewusstsein, sich des gewissermaßen zum Wahrzeichen der Firma gewordenen Shooter-Gameplays in freier Wildbahn zu entblättern und auf der brandneuen CryEngine 3 in die große Stadt zu tuckern.
Und welche andere Stadt könnte es sein als das unbeugsame New York? Nathan Camarillo, Ausführender Produzent von Crysis 2, mit dem wir nach der ersten Präsentation der Xbox-360-Version auf einem EA-Event in London sprachen, begreift diesen Wechsel aber eher als Chance denn als allzu großes Risiko. „Während die Dschungel-Insel in Crysis 1 optisch sehr gut aussah, war sie einem doch irgendwie egal“, erklärt er. „Man wollte sie nicht beschützen oder retten. Sie hatte keinerlei emotionale Tiefe oder emotionale Sogkraft.“
Das Team hat nach Angaben des sympathischen Cryteklers, der zuvor für Volition unter anderem an Perlen wie Freespace 2 und den ersten beiden Red Factions gearbeitet hat, eine ausgiebige Recherche angestellt, welche Stadt für den zweiten Teil am attraktivsten wäre. „New York hat uns einfach am meisten angesprochen“, erinnert er sich.
Dass das Team dem Dschungel den Rücken kehren würde, stand aber fest. „Nach Crysis war es durchaus vorstellbar, dass sich die Aliens in die Städte ausbreiten“. Und wie sie das tun. Der Titel spielt keine drei Jahre nach den Ereignissen des ersten Teils und trotzdem liegen Tokio, Rio de Janeiro und London schon mehr oder weniger in Schutt und Asche, als der Spieler als neuer Nanosuit-Träger seinen Einsatz in New York beginnt.
Das bekannte und hochgeschätzte Gameplay vieler fließend ineinander übergehender Shooter-Sandkästen sieht Crytek auch in der urbanen Umgebung nicht in Gefahr. Das Team habe bei der Gestaltung des virtuellen Big Apples viel von der visuellen Sprache des Vorgängers verwendet und dem „Beton-Dschungel“ durch die Zerstörung durch die Aliens einen sehr viel organischeren Anstrich verpasst. Auch der Grad an Interaktion sei weiterhin sehr hoch und beginne, so Camarillo, auf gewohnt niedriger Ebene schon mit dem Manipulieren von herumliegenden Gegenständen. Doch das war bei der CryEngine-3-Middleware auch nicht anders zu erwarten.
Das Hauptwerkzeug des Spielers - um in der Sandkasten-Analogie zu bleiben, also Eimer, Kuchenförmchen, Schaufel und Sandmühle zugleich - ist erneut die Nanosuit. Diese wurde im zweiten Anlauf aber mehr an die Spielgewohnheiten der Gamer angepasst.
„Im ersten Teil spielten die User mit den Nanosuit-Fähigkeiten Armor, Strength, Speed und Cloak. Wir fanden aber heraus, dass die Leute diese Einzelfähigkeiten zu verschiedenen Spielstilen zusammenfassten“, erklärt Camarillo während der Präsentation die Änderungen am martialischen Aufzug des Spielers. „Die eine Sorte Spieler zockte das Spiel wie der Predator, um sich ihrer Beute so nah wie möglich zu nähern und sie dann anzuspringen. Sie benutzten es beinahe als KI-Leidenssimulator. Für sie ging es darum, durch den Dschungel zu schleichen und die Gegner einen nach dem anderen auszuschalten.“
Spieler der zweiten Gattung verlassen sich laut Camarillo auf die taktischen Mittel, die das Spiel ihnen bietet. Sie setzen auf Ferngläser, Scanner und Fernwaffen und versuchen nicht, unentdeckt zu bleiben. Der offensivste Spielertyp stürzt sich mit dem Kopf zuerst in die Schlacht, versucht so viel Schaden und Chaos wie möglich anzurichten und wenn er stirbt, dann ist er nicht sauer, dass er die Stelle nochmal spielen muss, er regt sich darüber auf, dass er einen Fehler gemacht hat, der zu vermeiden war.
Um diesen Spielgewohnheiten gerecht zu werden, hat Crytek dreierlei getan. Zunächst einmal wurden die Nanosuit-Fähigkeiten Schnelligkeit und Kraft zusammengefasst - was ich für einen gelungenen Schachzug halte, mich hat es im ersten Teil immer gewundert, warum ich trotz doppelter Laufgeschwindigkeit nicht weiter oder höher springen konnte. Die Tarnkappe („Cloak“) wurde gleich ganz zu „Stealth“ umbenannt (werden hier womöglich auch die Schrittgeräusche gedämpft und die Agilität angepasst?) und schließlich kommt mit „Tactical“ ein dritter neuer Modus hinzu, bei dem der Spieler per HUD Umgebungsinformationen und Gegnerpositionen angezeigt bekommt.
Letzten Endes scheinen dies allerdings nur Veränderungen an der Benutzerfreundlichkeit des Titels zu sein, denn die vorgeführte Szene aus einem Prä-Alpha-Build der Xbox-360-Version erinnerte schon stark an das gewohnte Crysis-Versteckspiel. Nur eben von Dach zu Dach mittelgroßer New Yorker Wohngebäude, die, wie man uns sagt, im Wall-Street-Bezirk der Stadt angesiedelt sein sollen. Der Spieler muss ein Gebäude infiltrieren und während er sich zwischen den Gebäuden bewegt, wird zumindest ansatzweise deutlich, was Crytek an der größeren Vertikalität der Stadt findet.
Die Suche nach dem „Higher Ground“, um dem Gegner gegenüber einen taktischen Vorteil zu haben, ist zumindest in der Theorie dieser Umgebung überaus attraktiv. In der Praxis handelt es sich bei dem gezeigten knapp zehnminütigen Ausschnitt leider um eine typische Demo, bei der alles kurz, nichts aber so richtig gezeigt wird.
Der Mann am Demo-Joypad springt im Stealth-Modus von einem Dach zum nächsten, tarnt sich noch während der Landung und erlegt von hinten ein patrouillierenden Gegner, bevor er vom nun gesäuberten Dach die weitere Umgebung im Taktik-Modus auskundschaftet. Auffällig ist hier, dass die Gegner im ersten Teil dieser Demo-Spielwiese offenkundig Menschen sind. Camarillo erklärt, dass es sich hierbei um die Streitkräfte eines privaten Militärunternehmens handelt - dem Lieblingsfeindbild aller modernen Videospiele. Was diese allerdings in der Stadt zu tun haben, wollte er nicht verraten.
Während der strategischen Reinigung des Levels ist die Ereignis- und Detaildichte recht hoch. Ein Gebäude droht unter erdigem Knacken einzustürzen, spuckt Baustaub aus seinen Rissen auf die Straßen unter ihm, amerikanische Flaggen wehen im Hintergrund traurig in einer leichten Brise, während sich der Spieler leise einem montierten MG nahe einer Feindstellung nähert.
Das reißt er dann aus seiner Verankerung und fällt den PMCs damit in die Flanke, bevor er die Söldner in der Mitte des Areals durch das Zielfernrohr-Attachment seines Sturmgewehrs erledigt. Das Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Anzug-Modi sorgt umgehend für den vertrauten Spielablauf, wenn auch mit weniger Grün und in leichter übersehbaren Bereichen.
Nach einer Zwischensequenz im inneren des Zielgebäudes, die allerdings weggeklickt wird, um nichts von der Geschichte zu verraten, findet sich unser Hauptcharakter in der Gewalt der Militärfirma wieder - ohne Waffen und vor allem ohne Energie für seinen Anzug. Als er halb bewusstlos zu einem Helikopter geschleppt wird, kommen den PMCs allerdings die außerirdischen Invasoren in die Quere. Das Haus, aus dem man gerade erst gekommen ist, scheint einen Satz zu machen. Wieder husten wandernde Risse Asbestwolken aus, bevor der mehrstöckige Bau von unten wie von einer überdimensionierten subterranen Bohrmaschine durchstoßen wird. Die PMCs lassen den Nano-Soldaten im Dreck liegen, wenden sich der Bedrohung zu, nur um von einer unsichtbaren Kraft jämmerlich schreiend in die Knie gezwängt zu werden und schließlich reglos am Boden zu liegen. Daddy ist Zuhause.
Passend zur Ankunft der ungebetenen Besucher springt das Notstromaggregat der Nanosuit an, damit uns Crytek gleich die nächste Neuerung des Crysis-Universums präsentieren kann: Auch den extraterrestrischen Gegnern sind mittlerweile Beine gewachsen. Ein fremdartiges Fluggerät wirft zwei gewaltige, wandelnde Aliens in schwerster Kampfmontur beinahe beiläufig, wie eine leere McDonalds-Tüte aus einem fahrenden Auto, auf den Asphalt vor uns. Die Kameraden laden zum Straßenkampf zwischen Autowracks, zaghaften Straßenrand-Bepflanzungen und Hydranten ein und machen umgehend Bekanntschaft mit dem Gauss-Werfer.
Dessen explosive Geschosse verwandeln den sterilen Putz der Fassaden mit recht ansehnlichen Effekten in schweren Feinstaub und drücken die jungen Bäume, die die Straße säumen, beinahe komplett in die Waagerechte. Als die Präsentation mit der vermeintlichen Niederlage des Spielers endet, wollen wir natürlich wissen, was es mit der plötzlichen Evolution der Außerirdischen auf sich hat.
„Wir waren in Crysis 1 mit dem Kampf gegen die Aliens nicht besonders zufrieden. Wir brachten dem Spieler Dinge bei, wie etwa die Deckung zu benutzen, sich zu verstecken und so weiter. Als er dann gegen die Aliens gekämpft hat, haben wir dem Spieler viel von diesen Möglichkeiten genommen“, so Camarillo im anschließenden Interview, das wir am kommenden Freitag veröffentlichen. „Wir wollten dieses Mal Aliens bieten, die ein bisschen analoger zu dem sind, was man als Spieler machen kann“. Und so verspricht der Produzent zusätzlich zu diesen wandelnden Panzern auch sehr viel mobilere Gegner, die die Vertikalität der Level ebenso einzusetzen wissen wie der Spieler.
Man mag über den Szenarienwechsel denken was man will, damit spricht Camarillo einen gewaltigen Schwachpunkt des ersten Teils an, der im letzten Drittel, an seinem eigentlichen Höhepunkt, mit der Einführung der Außerirdischen und der Eis-Umgebungen einiges an Fahrt verlor. Einen weiteren unstrittigen Schwachpunkt von Crysis 1 hat der Entwickler dankenswerter Weise auch in der Story und der Charakterisierung ausgemacht. Diese wurden nun in Zusammenarbeit mit dem auf gelungene Sci-Fi-Romane abonnierten, britischen Autoren Richard Morgan erarbeitet, der bereits den einen oder anderen Preis gewonnen hat (unter anderem den Arthur C. Clark und den Philip K. Dick Award).
Nathan Camarillo eröffnete die Vorführung mit der Vermutung, dass die anwesenden Journalisten darüber staunen würden, das Spiel auf der Xbox 360 laufen zu sehen. Dieser Effekt blieb allerdings aus. Man kann sehen, erahnen, wozu die Engine eigentlich in der Lage ist. Sie zeigt von allem viel - viele Objekte, viele Effekte, viel physikalisch nachvollziehbare Interaktion -, in keiner der Einzeldisziplinen wird hier allerdings bisher ein unübertroffenes Maximum erreicht, wie das damals beim ersten Teil der Fall war. Hier ist vermutlich einfach noch reichlich Tuning angesagt.
Mehr Sorgen mache ich mir allerdings wegen des Szenarios: Die Gamer wissen, wie eine Stadt aussieht, die wenigsten von ihnen waren aber schon mal in einem echten Dschungel - und so war für mich das natürliche, lebensechte Szenario des ersten Teils einer der ganz großen Pluspunkte des Spiels. Crytek steht jetzt in der Pflicht, etwas mit der Stadt anzustellen, was die Spieler noch nie gesehen haben, wenn sie mit ihrem ersten Schritt aus dem Busch heraus nicht schmerzhaft auf die Nano-Nase fallen wollen. Der Wille ist da. Jetzt müssen sie nur noch beweisen, dass ihre grünen Daumen auch zur Städteplanung taugen.