Ukraine hat höchste HIV-Infektionsrate in Europa
Qualvolles Sterben in Kellern und Absteigen
51.600 Menschen sind im vergangenen Jahr in Europa HIV-positiv getestet worden. Die Infektionsrate hat sich damit laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) seit 2000 verdoppelt. Anlässlich des Weltaidstages veröffentlichte die WHO diese Zahlen und die Einschätzung, dass sich das Virus in osteuropäischen Ländern wie der Ukraine dramatisch ausbreitet.
Von Christina Nagel, ARD-Hörfunkstudio Moskau
Auch in diesem Jahr stellt die Ukraine einen traurigen Rekord auf: Die Weltgesundheitsbehörde bescheinigt dem Land die höchste HIV-Infektionsrate Europas. Vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass 350.000 Menschen in der Ukraine mit dem HI-Virus infiziert sind. Andere Quellen sprechen von bis 550.000 Infizierten. Die WHO befürchtet, dass die Zahl der Virusträger in den kommenden fünf Jahren auf 820.000 steigen könnte und fordert deshalb umfassendere und effektivere Maßnahmen vom Staat.
An der Schwelle der Unumkehrbarkeit
Darauf drängen auch Aktivisten wie Dimitri. Der 32-Jährige glaubt, dass die Regierung die Eigendynamik der Virus-Verbreitung immer noch unterschätzt: "Die Regierung muss sich klar machen, was für ein globales Problem entsteht, wenn die Schwelle der Unumkehrbarkeit überschritten wird. Wenn die Zahl der Infizierten in der Ukraine zu groß wird, kann keine Technologie dieser Welt diesen Prozess mehr stoppen."
http://www.tagesschau.de/multimedia/...mittel16x9.jpg http://www.tagesschau.de/image/icon_lupe_d5e0f7.gif [Bildunterschrift: Blutröhrchen HIV-infizierter Patienten in einem Aidscenter in Odessa ]
Die Ukraine stehe am Scheideweg: Entweder sie gehe den Weg einiger afrikanischer Staaten mit einer kaum noch zu kontrollierenden Ausbreitung des Virus oder sie wähle den Weg Europas und stoppe die Epidemie. Letzteres erfordere nicht nur mehr Geld, sondern vor allem auch ein Umdenken in der Gesellschaft:
"Ich lebe in einem Land, in dem die Meinung vorherrscht, dass sich nur schlechte Menschen anstecken - Leute aus der Unterschicht, Leute mit einer niedrigen Moral, Leute, die eigentlich keine Menschen sind, Prostituierte, Drogenabhängige", erklärt Dimitri.
Kaum jemand schaut hin
Nicht selten würden Drogenabhängige mit der Diagnose Aids einfach nach Hause oder zurück auf die Straße geschickt. Ein qualvolles Sterben auf Raten - in Kellern und Absteigen. Außer Sichtweite der Gesellschaft, die das Problem nur zu gern ignoriert. "Das ist nicht nur grausam. Eine solche Haltung innerhalb einer Gesellschaft ist tödlich für die menschlichen Beziehungen."
Reportage aus Odessa:
http://www.tagesschau.de/multimedia/...-klein16x9.jpg
http://www.tagesschau.de/image/icon_intern_c3d1eb.gif HIV-positiv und vergessen von der Welt Der ARD-Fernsehkorrespondent Stephan Stuchlik über die Situation in der ukrainischen Stadt Odessa, in der jeder 15. Einwohner HIV-positiv ist [
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Es fehlt an Therapien und Medikamenten
Die Kliniken und Praxen haben oft weder Kapazitäten noch Mittel und Medikamente, um allen Infizierten eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen. Dimitri selbst hatte Glück, er bekam nicht nur die Diagnose, sondern auch eine Therapie: "Ich hatte Drogen genommen, ein ausschweifendes Sexualleben geführt. Es gibt mehrere Möglichkeiten, wie ich mich angesteckt haben könnte. Entweder beim Geschlechtsverkehr oder beim Gebrauch infizierter Spritzen."
Eine durchdachte staatliche Anti-Drogen-Politik ist für Dimitri einer der Schlüssel zum erfolgreichen Kampf gegen das HI-Virus: "Ich denke, es wäre sehr wichtig, sich um die Drogenabhängigen zu kümmern. 70 Prozent von ihnen sind mit dem HI-Virus infiziert. Solange man dieses Problem nicht unter Kontrolle bekommt, auf menschlicher, medizinischer und sozialer Ebene, solange wird sich die Epidemie weiter ausbreiten."
Ohne Aussicht auf Erfolg?
Mehr Aufklärung und Prävention für Gesunde, mehr Behandlungskapazitäten für Erkrankte, Hospize für ein würdiges Sterben, wenn keine Hoffnung mehr besteht … Jedes Jahr um diese Zeit derselbe Appell - ein schlagender Erfolg lässt weiter auf sich warten.